Ein Glücksgefühl breitet sich aus, aller pandemiebedingten Erschöpfung zum Trotz: Das Büro ist tot! Das Grossraumbüro erst recht! Zeit also, im virtuellen Zeitalter auf die Lasten des physischen Austauschs zu verzichten? Bringt uns die neue Normalität damit die beste – und für Arbeitgeber billigste – aller Welten?
Zweifel sind angebracht, denn gleichzeitig beschleicht uns auch ein böser Verdacht: Denn einerseits führt eine direkte Linie vom «home office» zum «off-shoring». Internet gibt es (fast) überall, desgleichen qualifizierte Arbeitskräfte – nur das Schweizer Lohnniveau ist einmalig. Aus dem Büro, aus dem Sinn? Zugleich sinkt durch die Virtualisierung auch die Loyalität mit dem Arbeitgeber. Mit den ersten Erfahrungswerten zeigt sich, dass die Virtualisierung zwar Freiheitsgrade bringt, aber auch das Risiko eines Verlusts von Produktivität und – für ein Land das auf der Innovationsrangliste traditionell weit oben steht ebenso kritisch – ein Rückgang der Kreativität.
Für die Gestaltung der Zukunft und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit geht es um mehr als eine Optimierung von Flächen und Kosten. Nämlich die Frage, was von einer Organisation bleibt, wenn nach der Leitlinie – Reduce to the max – alles nicht tangible wegfällt.
Was hält ein Unternehmen künftig zusammen? Profit? Ein Logo? Eine kulturelle DNA? Eine sinnstiftende Tätigkeit? Falls die Mitarbeitenden nicht an die Firma glauben, gibt es die Firma nicht mehr.
Mit dieser allgemeinen Verunsicherung steigt der Stellenwert der Narrative: Wer sind wir? Woher kommen wir? Was wollen wir erreichen?
Jeder Staat, jede Firma und jedes Individuum kreiert sie für sich, aber häufig unbewusst. Der Nobelpreisträger Robert Shiller hat die ökonomische Macht des Erzählten schon vor einigen Jahren als entscheidend für den Verlauf von Krisen erkannt: Die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre sei nur deshalb so verheerend ausgefallen, so Shiller, weil damals die kollektive Überzeugung vorgeherrscht habe, die Verhältnisse würden sehr lange elend bleiben nach dem Börsensturz von 1929. Narrative orientieren nicht nur, sie schaffen auch Realitäten.
Was im Gesellschaftlichen gilt, gilt auch auf Ebene der einzelnen Organisation. Die Corona-Krise hat gezeigt: Das VUCA-environment (volatile, uncertain, complex and ambiguous) zwingt zu Demut, Flexibilität, zu permanenter selbstkritischer Prüfung eigener Überzeugungen. Weil die Welt zu kompliziert geworden ist für eine grandiose Strategie, bietet sich das vergleichsweise bescheidene Narrativ an.
Narrative bringen uns dazu nachzudenken, ohne gleich noch den Rest der Welt miterklären zu müssen. Sie stellen bescheidene, aber entscheidende Fragen: Worauf kommt es wirklich an? Worin besteht der Mehrwert – und der Sinn meiner Arbeit? Und nicht zuletzt: Was verbindet mich mit meiner Organisation?
Aber Narrative können noch mehr: Sie helfen, Schwachstellen zu identifizieren, auf die man vielleicht erst aufmerksam würde, wenn es bereits zu spät ist, wenn also die eigene Reputation bereits in Gefahr ist. Narrative sind Erzählungen, die sich in einem harten Prozess der Selbstprüfung durch «nasty questions» herauskristallisieren müssen. Und die daher krisenresistente Kommunikationsmodule liefern, die jederzeit einsetzbar sind, im Inneren oder gegen aussen. Immer vorausgesetzt, dass besagtes Narrativ sich organisch weiterentwickeln kann und die Perspektive möglichst vieler interner und externer Stakeholder beinhaltet.
Und nicht zuletzt dienen Narrative dem Denken in Szenarien. Auch das hat Covid verändert: Das Nachdenken über die Zukunft ist vom «nice-to-do» zum «must-do» mutiert. Narrative lenken den Blick in die Vergangenheit – und dabei entdeckt man, dass es immer wieder Wende- und Kipppunkte gab in der Geschichte eine Organisation. Mit anderen Worten: Mehrere mögliche Vergangenheiten. Das schärft den Blick für mehrere mögliche Zukünfte.
Ein gutes Narrativ ist ein immaterieller Gegenentwurf zum lästigen Grossraumbüro. Dort sollte ein Gemeinschaftsgefühl herangezüchtet werden, erreicht wurde das Gegenteil: Die Flucht in die Vereinzelung, sei es unter den Kopfhörer, sei es in die schalldichten Sitzungszimmer.
Aber das Büro hat deswegen nicht unbedingt ausgedient, im Gegenteil. Der physische Raum wird zu einem zentralen Ort für Identifikation, für einen echten Austausch, das Entwickeln von Ideen, für das gemeinsame Angehen schwieriger und Anstrengender Aufgaben, die trotz oder wegen der Digitalisierung nicht weniger werden, für den Zusammenhalt von Teams. Ein Büro wäre so nicht länger der Ort, an dem man sich im Namen der kollektiven Identitätsstiftung gegenseitig beim Versuch stört, konzentriert zu arbeiten.
Die Grundlage dafür sind gemeinsame Werte, die einerseits auf der DNA einer Organisation beruhen, und andererseits im Kontext der künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen neu definiert – und für das 21. Jahrhundert als Leitlinien für den Weg in die unbekannte hybride Zukunft mit aufbereitet werden müssen.